Auszug aus: Barbara Hennings, Ermutigung und Anerkennung. Der Erziehungskompass nach Rudolf Dreikurs, © Kreuz Verlag, Freiburg 2014 (ISBN 978-3-451-61219-0) Mit freundlicher Genehmigung des Kreuz Verlags
"Einleitung: Ein Kompass
Ein Kompass zeigt die Himmelsrichtung an. Wenn man sich im Gelände verlaufen hat, hilft ein Kompass, den Weg zu finden. Das Ziel muss man allerdings vorher kennen! Eltern heute haben es viel schwerer als frühere Generationen. Die alten, autoritären Erziehungsmethoden mit Belohnung und Strafe haben ausgedient. Die 68er Generation hat dagegen ebenso erfolgreich protestiert wie gegen die überkommenen politischen Gedanken. Der Laissez-faire Stil, den diese Generation ausprobierte, hat nicht die gewünschten Resultate gebracht. Was nun?
Alfred Adler (1870 – 1937), der Begründer der Individualpsychologie, hat vor über hundert Jahren einen gangbaren Weg gewiesen. Sein Schüler Rudolf Dreikurs hat ihn ausgeebnet. Viele seiner Schüler haben ihrerseits weiter gearbeitet, weil sie fanden, dass er sicher zum Ziel führt. Ein zentraler Gedanke Adlers war, dass Kinder nicht geprägt werden von den Eltern, sondern selber auf sehr kreative Weise ihre Persönlichkeit miterschaffen. Sie beobachten genau und lernen, wie sie ihre Ziele erreichen können. Die Aufgabe der Eltern ist, ihnen zu helfen, gute Meinungen über sich selber und ihre Möglichkeiten zu bilden und gute Strategien zu entwickeln, um in der Familie, im Kindergarten und in der Schule und später im Leben ihren Platz zu finden. Negatives, zerstörerisches Verhalten ist ebenso erlernt wie konstruktives Verhalten, das dem Kind selbst und der Gemeinschaft zugute kommt. Adler sieht Entmutigung als die Wurzel allen Fehlverhaltens. Fehlverhalten ist ein Symptom für die Entmutigung des Kindes. Ermutigung schafft Beziehung, gibt Kindern ein gutes Selbstwertgefühl, lässt sie die Probleme des Alltags anpacken und ihr Potential wachsen. Ermutigung ist nicht alles, aber ohne Ermutigung ist alles nichts.
Erziehung ist immer eine Gratwanderung. Es gibt keine Patentrezepte, auch wenn Eltern sich das manchmal wünschen. Es gibt keine Medikamente, die alles in Ordnung bringen, so wie Aspirin oder Hustensaft. Erziehung ist Beziehung – zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Partnern, zwischen Eltern und Großeltern und zwischen Eltern und den Institutionen Kindergarten und Schule. Ohne eine gute Beziehung gibt es keinen guten Einfluss, sondern Widerstände. Druck schafft meistens Gegendruck, in jedem Lebensbereich. Kindererziehung ist immer auch Selbsterziehung.
Auf der Seite der Kinder geht es ums aufwachsen, sich entwickeln, lernen. Kinder lernen sich anzuziehen, zu sprechen, Eltern um den Finger zu wickeln, Charme, Trotz, Wut, Angst und Verzweiflung einzusetzen. Das geschieht nicht bewusst! Kleine Kinder manipulieren nicht, sondern sie merken sich, was „funktioniert". Dieses Lernen beginnt bei der Geburt, und setzt sich fort durch die Kindergartenjahre. Spätestens bis zum Schuleintritt hat sich laut Adler der „Lebensstil", die wesentlichen Charakterzüge des Kindes, gebildet. Deshalb nimmt Lernen eine zentrale Stelle in diesem Buch ein.
Es geht nicht darum, richtige oder falsche Methoden aufzeigen. Ihre Kinder sollen sich zu lebensfrohen, selbstbewussten, kompetenten und der Gemeinschaft verpflichteten Erwachsenen entwickeln. Wenn Ihnen die Erziehungsziele, die ich im ersten Kapitel nenne, zusagen, dann könnte dieses Buch ein Kompass für Sie sein, der Ihnen im alltäglichen Erziehungsdschungel Orientierung gibt."