FEIN IM SEIN
Ist Hochsensibilität Gabe und Glück oder Herausforderung und Hürde?
von Hana Hahne (externer Link), Heilpraktikerin für Psychotherapie und Coach in Hannover
Ungefähr 15 bis 20 % der Menschen bekommen eine umfassende Art der Wahrnehmung und des Denkens, eine starke Intensität ihrer Emotionen, eine sensorische Empfindsamkeit und damit eine Anfälligkeit für Überstimulation des Nervensystems in die Wiege gelegt. Diese vier Hauptkriterien der Hochsensibilität beschreibt die amerikanische Psychologin Dr. Elaine Aron, die seit den 1990er Jahren Forschung zum diesem Thema betreibt.
Mit Hochsensibilität sind noch viele weitere Aspekte verbunden. Hochsensible haben oft eine ausgeprägte ethische Haltung und orientieren sich an Werten wie Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Verantwortung. Ihr Einfühlungsvermögen und Mitgefühl lassen sie mehr bei den anderen sein als bei sich selbst. Sie haben hohe Erwartungen an sich, bis zum Perfektionismus und zur Selbstaufgabe. Oberflächliches langweilt sie, sie suchen nach Tiefgründigkeit und Sinn. Hochsensible fühlen sich von Kindheit an irgendwie anders, denn sie wachsen als Minderheit innerhalb einer Mehrheit anders wahrnehmender auf. Das was die anderen denken, fühlen, wie sie sich verhalten, irritiert und verunsichert sie. Viele kommen zu der Überzeugung, sie seien irgendwie falsch oder weniger wert und versuchen dann, der Welt der anderen gerecht zu werden. Mit diesem Versuch überfordern sie sich manchmal so stark, dass sie physische und psychische Symptome entwickeln.
Für Eltern, die ein ungewöhnliches Verhalten oder eine abweichende Entwicklung ihres Kindes beobachten, kann es gut sein, auch eine mögliche Hochsensibilität ins Auge zu fassen. Eine Hochsensibilität kann sich an ganz verschiedenen Reaktionen des Kindes zeigen. Einige sind zurückhaltend, beobachtend, eher ängstlich, gehen nicht von selbst auf etwas Neues zu, vielleicht schlafen sie unruhig und wachen nachts auf. Andere neigen zu zickigem oder aggressiven Verhalten. Hier ist eine Verwechslung mit ADHS möglich. Ein guter Indikator ist die sensorische Empfindsamkeit. Wenn Kinder sehr geräusch- oder lichtempfindlich sind, wenn sie auf Gerüche gereizt reagieren, wenn sie bestimmte Geschmackssorten ablehnen, wenn sie eng sitzende oder kratzige Kleidung nicht anziehen mögen, kann das ein erster Hinweis auf Hochsensibilität sein. Ein hochsensibles Kind braucht sehr viel Verständnis und Unterstützung dabei, sich in einer Welt zurechtzufinden, die sein Nervensystem prinzipiell überfordert.
Da das Konzept der Hochsensibilität in der Medizin und Psychologie noch wenig bekannt ist, passiert es leider sehr oft, dass Hochsensible die Diagnose einer psychischen Störung bekommen und daraufhin fälschlicherweise behandelt werden. Diese Behandlungen haben dann auch nur einen eingeschränkten oder auch gar keinen Erfolg, weil Hochsensibilität keine psychische Störung ist, sondern eine genetische Besonderheit des Nervensystems, die keinen Krankheitswert hat, in Folge auch nicht behandelbar ist.
Dennoch entwickeln Hochsensible unter bestimmten Bedingungen psychische und psychosomatische Symptome als Reaktion auf ein nicht passiges Umfeld. Dazu gehören Umweltreize wie Lärm, Menschenmengen, Medienflut, große Veranstaltungen, Konflikte, Spannungen, Unverstanden sein, Ungerechtigkeiten, Druck, Wettbewerbs-, Beobachtungs- und neue Situationen. Ein weiterer Aspekt, der zur Entwicklung von Symptomen führen kann, ist die Tatsache, dass Hochsensible, sofern sie im Elternhaus nicht entsprechend erkannt, akzeptiert und gefördert worden sind, nur ein geringes Selbstwertgefühl entwickeln konnten. Mit einem niedrigen Selbstwertgefühl ausgestattet, fällt es ihnen schwer, eigene Bedürfnisse, Grenzen und Einstellungen zu verteidigen, sich zu behaupten und ihren Weg im Leben zu finden. Es entstehen Probleme in Beziehungen und in beruflichen Situationen. Dadurch fühlen sich Hochsensible wiederum bestätigt in ihrer Einschätzung, weniger wert oder falsch zu sein. Ein Teufelskreis beginnt.
Das Konzept der Hochsensibilität kann eine Chance sein, sich wirklich zu erkennen, die falschen abwertenden Selbsteinschätzungen zu korrigieren und den Blick auf eigene Begabungen zu richten. Das macht selbstbewusst und das Selbstwertgefühl kann steigen. Gerade Hochsensible haben das Potenzial, ein selbstbestimmtes, sinnhaftes und erfülltes Leben zu führen.
Weitere Informationen (externer Link): feinimsein.de